Mohammad Wazir glaubt, am 11 März 2012 sei der Sinn seines Lebens verloren gegangen
Foto: Lela Ahmadzai
Vor genau zwei Jahren kam es in der afghanischen Provinz Kandahar zu einem der schlimmsten Kriegsverbrechen seit der US-Invasion vom Oktober 2001. Ein amerikanischer Soldat verließ nachts sein Camp, um in zwei nahe gelegene Dörfer einzudringen, die von Bauern und deren Familien bewohnt wurden. In beiden Orten tötete Robert Bales 16 Menschen, hauptsächlich Kinder, Frauen und Greise. Sechs weitere Menschen ließ er schwer verwundet zurück. Das jüngste Oper war ein zweijähriges Mädchen. Im September 2013 wurde der Täter von einem US-Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt.
Wenn Mohammad Wazir von jener Nacht des Grauens erzählt, bleibt seine Stimme monoton und ernst. Der Bauer aus dem Dorf Panjwai in Südafghanistan hat am 1
n hat am 11. März 2012 elf Familienmitglieder verloren, darunter vier Töchter, seinen Bruder und dessen Frau, dazu das Kind der beiden. Wazir selbst befand sich zum Zeitpunkt der Tat bei Verwandten in einem Nachbarort. Was passiert war, erfuhr er am Telefon. Sein Hof – schon der Urgroßvater hatte den betrieben – wurde vollkommen zerstört.Die südlichen Provinzen Afghanistans sind für ihre Granatäpfel berühmt, für ihre saftigen Trauben und ihre riesigen Melonen. Ein einzigartiges Obst. Es sind diese Früchte, die Mohammad Wazir und seine Familie über Generationen hinweg angebaut haben. Nach dem 11. März 2012 blieb von der Plantage so gut wie nichts übrig. „Ich fühlte mich dadurch selbst zerstört“, sagt Wazir. „Mir ging der Sinn meines Lebens verloren und ich begriff, es gibt keine Gerechtigkeit. Die Amerikaner lassen nur Zerstörung zurück. Doch warum? Was haben wir ihnen getan?“Nur ein Einzeltäter?Wazir ist jetzt kein Bauer mehr. Er hat sein Dorf Panjwai nach der Mordnacht verlassen. Wo einem alles genommen wurde, gebe es nichts mehr, um dort zu leben, sagt er. So kam er bei Verwandten in Spin Boldak in einer anderen Gegend von Kandahar unter. Wazir erhielt nach der Tat eine Entschädigung von 50.000 Dollar für jeden, der aus seiner Familie getötet wurde. Er sagt: „Davon kehrt niemand zurück.“Nach dem Massaker suchte ein afghanisches Untersuchungsteam den Tatort auf. Bald darauf bat die Regierung zu einer offiziellen Anhörung mit Angehörigen der Opfer und Zeugen aus der Gemeinde Panjwai. Wazir und einige Dorfälteste aus der Umgebung waren ebenfalls eingeladen, als Präsident Hamid Karzai mit einem Teil seines Stabes erschienen war. Während Wazir zu ihnen sprach, wiederholte er mehrfach einen Satz: „Herr Präsident, wir wollen Gerechtigkeit.“Das Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan hat bald nach der Tat gesagt, es habe sich um einen Einzeltäter gehandelt. Wazir und auch andere Leute aus dem Dorf, die an diesem Tag vorgeladen sind, glauben das nicht. Ein Dorfältester fragte Hamid Karzai, warum man jemandem wie Robert Bales eine Waffe gebe und ihn in ein fremdes Land schicke – der Präsident gab ihm keine Antwort. Shakeba Hashimi, Mitglied des afghanischen Untersuchungsteams, war der Auffassung, es müssten mehrere Soldaten – mindestens 15, eher 20 – an der Tat beteiligt gewesen sein. Anders konnte er sich das Ausmaß der Zerstörung nicht vorstellen. Außerdem liegen die beiden betroffenen Dörfer weit voneinander entfernt. Aber die eingesetzten US-Ermittler wollten davon nichts wissen.Anfang Juni 2013 begann in Seattle vor einem Militärtribunal der Prozess gegen Robert Bales. Die Hinterbliebenen aus Kandahar verstanden nicht, weshalb kein Gericht in Afghanistan den Fall übernahm. Aber die heimischen Gerichte sind nach amerikanischem Recht nicht für US-Soldaten zuständig. Egal, ob bei Razzien unbeteiligte Zivilisten sterben, Hochzeitsgesellschaften bombardiert oder in Bagram, dem „afghanischen Guantanamo“, Gefangene gefoltert werden. Ein US-Soldat darf wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schon gar nicht auf einer Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag landen – schließlich erkennen die USA ihn nicht an.Als der Bales-Prozess im August 2013 in seine entscheidende Phase ging, waren auch einige Männer aus dem Dorf Panjwai – unter ihnen Mohammad Wazir – vorgeladen, um gehört zu werden. Für Wazir war das ein großer Schritt. Er hatte sich vorgenommen, alles zu sagen, was ihm auf dem Herzen lag. Alles schien ihm wie eine schwere Last, die er loswerden musste. Aber es wurde nichts daraus. Der Richter belehrte Wazir, er solle nur auf die ihm gestellten Fragen der Staatsanwaltschaft oder der Verteidiger antworten. Persönliche Erklärungen seien nicht erwünscht. Nach der Verhandlung versuchten einige Journalisten, Wazir und die anderen afghanischen Zeugen zu interviewen, und scheiterten. Wo die Afghanen untergebracht waren, blieb während ihres Aufenthalts in den USA geheim.Robert Bales war ein ganz normaler Amerikaner aus Ohio. Vor seinem Einsatz in Afghanistan war er im Irak stationiert gewesen. Er hatte in seinem Soldatenleben eine Kopfverletzung erlitten. Aber warum er zum Massenmörder wurde, konnte der Prozess nicht klären. Es gab keinen psychiatrischen Gutachter, der darauf eine Antwort finden konnte. Bales wurde ohne die Möglichkeit der Entlassung verurteilt. Er wird im Gefängnis sterben.Verbrannte BeweiseDer afghanische Politologe und Publizist Ahmad Waheed Mozhdah gehört zu den schärfsten Kritikern der NATO-Präsenz in seinem Land. Er sagt, es komme zu solchen Massakern wie in Kandahar öfter, als bekannt werde. „Dort waren örtliche Journalisten schnell vor Ort. Deshalb konnte das Blutbad nicht mehr geleugnet werden.“ Dass so schnell unabhängige Zeugen eingreifen, sei allerdings selten. In vielen Fällen würden die Opfer einfach als Taliban oder Aufständische bezeichnet. Mozhdah sagt, wer durch den Süden und Osten Afghanistans reise, könne von den Leuten viele grauenhafte Geschichten hören.Der US-Journalist Jeremy Scahill hat in seinem Buch sowie dem gleichnamigen Dokumentarfilm Dirty Wars einen Fall aus der Provinz Paktia geschildert. Dort töteten US-Soldaten während einer nächtlichen Razzia Frauen und Männer eines Dorfes, die mit den Taliban nichts zu tun hatten. Im Gegenteil: Einer der Toten war Polizist. Zeugenberichten zufolge sollen die US-Soldaten die Leichen anschließend mit Messern bearbeitet haben, um die Patronen aus den Leibern zu entfernen – vor den Augen überlebender Familienmitglieder. Seitens der NATO hieß es anfangs, dass die Opfer den Taliban zuzurechnen seien. Erst als auch hier mehrere Journalisten widersprachen, wurde der tatsächliche Sachverhalt zugegeben.Ähnliches passierte in Panjwai/Kandahar. Auch dort wollte man Beweise vernichten, indem man versuchte, die Leichen zu verbrennen. Die Überlebenden – ob nun Frauen oder Kinder – mussten dabei zusehen. „Und dann wundert man sich, warum den ausländischen Truppen ein solcher Hass entgegenschlägt. Findet man es im Westen tatsächlich so überraschend, wenn einige der Jungen, die dieses Blutbad mit ansehen mussten, früher oder später zu den Taliban oder anderen Aufständischen überlaufen?“, fragt Mozhdah.Mohammad Wazir will nun nichts mehr zu jener Nacht sagen: „Ich habe meine Geschichte oft erzählt, aber jedes Mal tut es von neuem weh. Ich warte – ebenso wie alle anderen aus unserem Dorf – immer noch auf eine gerechte Strafe für den Täter.“ Spätestens wenn der Mörder vor seinem Schöpfer stehe, sagt der Bauer, werde er nicht weglaufen können.