Der Freitag: Welchen Reim machen Sie sich auf die Entführung Ihres Kollegen Leonid Raswosschajew?
Ilja Ponomarew: Ich glaube, dahinter steckt Folgendes: Die massiven Proteste, die im Dezember in Russland begannen, waren vor allem von der Mittelschicht getragen und hatten politische Ziele – freie Wahlen, Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie, eine neue Verfassung. Die meisten Russen wünschen sich aber vor allem ein Ende des Preisanstiegs, sie wollen Kontrolle über ihre Energieversorger oder ein Ende der dauernden Bildungsreformen. Das sind die Forderungen der Arbeiter. Über den Sommer wurde deutlich, dass die Verbindungen zwischen den politischen und den sozialen Protesten enger werden. Der Schlüssel zu dieser Verbindung war die Linke Front. Und d
Schlüssel zu dieser Verbindung war die Linke Front. Und deshalb mussten sie die diskreditieren und sie als internationalen Spionagering darstellen.Die Behörden haben das Ganze also inszeniert, um die Protestbewegung anzuschwärzen?Ja, genau.Sie sehen Raswosschajew also als einen politischen Gefangenen.Ja klar, zweifellos.Was können Sie dann für ihn tun?Im Moment müssen wir ihm einfach gute Anwälte zur Verfügung stellen. Und auf internationaler Ebene brauchen wir vom UN-Flüchtlingskommissariat in der Ukraine die Bestätigung, dass Leonid tatsächlich als politischer Flüchtling gilt. Dann ist klar, dass die Ukraine und Russland gemeinsam gegen internationales Recht und internationale Verträge verstoßen haben. Und wir können vor Gericht beweisen, dass er wirklich entführt wurde.Wenn Sie an den Pussy-Riot-Prozess zurückdenken, erwarten Sie ein faires Verfahren?Keine Chance. In politischen Prozessen entscheiden Gerichte in Russland – unabhängig von den Beweisen und vom Recht – immer nach dem, was ihnen vorgegeben wird. Das gilt für den Pussy-Riot-Prozess und viele andere Verfahren.Dann scheint juristische Hilfe aber kein sehr aussichtsreiches Mittel.Es geht hier um den Kampf für die Menschenrechte, und den müssen wir führen. Vielleicht können wir die Chancen für eine mildere Strafe verbessern.Wenn man sich die russische Opposition als Ganzes anschaut, sieht die zumindest von außen ziemlich zerstritten aus.Ja, das stimmt. Auch Russland ist sehr gespalten. Die vergangenen 20 Jahre mit ihren liberalen Reformen haben eines auf jeden Fall erreicht: Russland ist jetzt die individualistischste Gesellschaft der Welt. Es gibt leider sehr wenig Solidarität, praktisch keine Gewerkschaftsbewegung, und die meisten Russen halten Parteien nicht für glaubwürdig. Außerdem ist Moskau sehr verschieden vom Rest des Landes, der sehr arm ist. Deshalb unterscheiden sich auch die Proteste der Moskowiter, die eher liberal oder rechts sind, von denen im Rest des Landes, das zu 80 Prozent eher links steht.Was bedeutet das für die Protestbewegung?Als die Proteste im Dezember losgingen, standen sie zuerst sehr unter dem Einfluss dieser Liberalen. Aber die haben dann doch verstanden, dass sie ohne die Linken nicht weiterkommen und sich nur auf Moskau beschränken müssten. Uns Linken war wiederum klar, dass wir in Moskau nichts zustande bringen würden, dass wir zwar 5.000 oder 10.000 Leute auf die Beine bekommen, aber nicht 100.000. Deshalb haben wir uns zusammengetan. Das ging allerdings nicht ohne einige Widersprüche im linken Lager und in dem neuen Oppositionsrat.Also wirken die zwei Bewegungen jetzt zusammen, oder blockieren sie sich?Wir verbünden uns für gemeinsame Aktionen, aber wir gründen keine einheitliche Organisation. Als nächsten Schritt müssen wir dem Rest des Landes erklären, was für ein Programm und was für ein Ziel wir verfolgen, wie das Leben aussehen soll, wenn wir uns durchsetzen. Das alles erfordert eine intensivere Zusammenarbeit.Sehen Sie Fortschritte?Ja, aber es gibt schon Widersprüche, nötig sind eine Menge Kompromisse, die die Staatspropaganda dann ausschlachtet nach dem Motto: Schaut her, diese Leute verraten ihre Ideale.Wie stark schätzen Sie die Bewegung derzeit ein?Ich selbst halte sie schon für einflussreich. Das sieht man daran, dass die Behörden Angst haben, dass unsere Meinungen gehört werden, vor allem in den liberalen Medien.Was bedeutet die Beschränkung des Demonstrationsrechts und das neue Gesetz über Hochverrat, das den Kontakt zu ausländischen Organisationen kriminalisiert?Der Bewegung gibt das Auftrieb, denn es mobilisiert zusätzliche Proteste. Aber für das Land ist es natürlich schlecht. Generell ist es traurig, dass sich die Situation radikalisiert. Stattdessen bräuchten wireigentlich einen Dialog zwischen den Behörden und der Opposition, zum Beispiel über Gesetzesinitiativen in der Duma. Doch wir produzieren nur gegenseitige Anfeindungen. In der Opposition werden jene, die für einen Dialog werben, als Verräter angesehen.Wie werten Sie die Wahl des Bloggers Alexej Nawalny als Sprecher des Oppositionsrats?Er erregt sehr viel Aufmerksamkeit und ist in Moskau sehr populär, allerdings nicht in der Opposition als Ganzes. Er wird nicht als Anführer der gesamten Opposition gesehen. Selbst in Moskau würde er, gäbe es jetzt Bürgermeisterwahlen, nur Vierter werden.Warum erscheint er dennoch als zentrale Figur?Er ist eine Internet-Ikone. Er steht für eine einflussreiche Schicht. Aber ich habe schon zu ihm gesagt: Mein Freund, du musst dich öffnen, sonst bist du zwar ein populärer Blogger, aber aus dir wird nie ein Politiker. Bisher hat er keine politische Kraft hinter sich, er hat noch nie für ein Amt kandidiert, und er hat noch nie gewonnen.Wie geht es jetzt für die Opposition weiter?Meine Strategie ist, eine gemeinsame Plattform für die Opposition zu formulieren, ein vorläufiges Programm, das den Weg zu einem Land mit freien Wahlen und mehr Demokratie aufzeigt und gleichzeitig von einer Mehrheit der Opposition verstanden und mitgetragen wird. Der zweite Punkt ist, eine neue Generation von Politikern auszubilden – vor allem aus den Regionen –, die wir als neue Elite präsentieren können. Erst dann können wir glaubhaft versichern, dass wir Alternativen zu den heutigen Dieben und Verbrechern haben – denn das wird ja auch immer wieder angezweifelt.