Der direkte Draht zum eigenen Impetus – das war es, was Anfang des 20. Jahrhunderts den modernen Menschen ausmachen sollte. Der Fotograf Henri Cartier-Bresson, groß und drahtig, ein Kosmopolit, der für seine preisgekrönten Fotoreportagen die Welt unablässig umkreiste, war einer der Ur-Menschen der Moderne, einer, der die Menschen das Modern-Sein lehren wollte.
Seine Fotografien erschienen bald in der damals avanciertesten Illustrierten, dem Life-Magazine, Publikationsort dreier Generationen von Spitzenfotografen, die an der Seite von weniger bedeutenden Autoren das „Goldene Zeitalter“ des Fotojournalismus begründeten. „The Decisive Moment“, der entscheidene Moment also, mit dem Cartier-Bresson sein Tun beschrieb, prägte den Stil ei
zum eigenen Impetus – das war es, was Anfang des 20. Jahrhunderts den modernen Menschen ausmachen sollte. Der Fotograf Henri Cartier-Bresson, groß und drahtig, ein Kosmopolit, der für seine preisgekrönten Fotoreportagen die Welt unablässig umkreiste, war einer der Ur-Menschen der Moderne, einer, der die Menschen das Modern-Sein lehren wollte.Seine Fotografien erschienen bald in der damals avanciertesten Illustrierten, dem Life-Magazine, Publikationsort dreier Generationen von Spitzenfotografen, die an der Seite von weniger bedeutenden Autoren das „Goldene Zeitalter“ des Fotojournalismus begründeten. „The Decisive Moment“, der entscheidene Moment also, mit dem Cartier-Bresson sein Tun beschrieb, prXX-replace-me-XXX228;gte den Stil einer ganzen Generation von Fotografen.Ende der 1950er Jahre reifte eine neue Generation von Fotografen, Künstlern und Filmemachern heran. Anders als ihre Vorgänger, die vom Fortschrittsglauben beseelt waren und sich auf das Zentrum des Geschehens konzentrierten, blickte diese junge Generation mit dem Eigensinn eines Kindes, das einen Geist gesehen zu haben meint, anderswohin. Die Aufmerksamkeit richtete sich nicht länger auf die modernen Wohnsiedlungen, die in Windeseile für die vielen nun plötzlich ebenfalls modern gewordenen Menschen hochgezogen wurden, sondern auf die leeren Stellen, die Lücken und Schluchten in den neuen Lebensräumen.Einer der herausragenden Vertreter dieser neuen Welle ist der 1941 im italienischen Cesena geborene Fotograf Guido Guidi. Veramente, ein im Mack Verlag erschienener Band, zeigt nun erstmals einen Querschnitt der in den letzten 40 Jahren entstandenen Arbeiten des hierzulande weithin unbekannten Fotografen.Der italienische Neorealismus war bereits in vollem Gang, als Guidi 1956 nach Venedig kam, um Architektur und Industriedesign zu studieren, und auch er begeisterte sich für die ersten Filme des Neorealismus wie Roberto Rossellinis Rom, offene Stadt, Giuseppe De Santis’ Bitterer Reis und Luchino Viscontis Rocco und seine Brüder. Hier blickte man auf die Moderne mit einem brutal offenen, öfter tief verlorenen Blick.Es wurde klar, dass diese neu gebildeten Landschaften keine mehr waren; die aus dem Boden gestampften Wohnsiedlungen, Industriegebiete und Verkehrswege wurden eher als ein von der Geschichte befreiter, leerer Raum wahrgenommen, in dem sich die sozialen und psychologischen Aspekte des Lebens überdeutlich abzeichneten.Unwirtlichkeit einer TrasseNeben dem Konzept-Fotografen Luigi Ghirri war Guido Guidi einer der ersten Fotografen Italiens, der die Anti-Landschaften der Provinz für seinen künstlerischen Blick entdeckte. Guidi, der bis auf die Jahre des Studiums in Venedig seine Heimatstadt Cesena niemals verlassen hatte, fühlte sich gleichermaßen angezogen und abgestoßen von dem neu entstehenden Antlitz seines Landes. Als Pendler zwischen Cesena und Venedig begann er noch während seines Studiums, die Unwirtlichkeit seiner Trasse zu fotografieren. Das Medium Fotografie wurde für ihn zur Möglichkeit, mit einer weniger verbrauchten Sprache zu arbeiten, einer Sprache, „die näher an den Dingen“ ist, wie er sagt.Vorbilder suchte er in den Anfängen der modernen Fotokunst. Anstatt das Interesse auf Künstler wie Cartier-Bresson zu richten, blickte Guidi weiter zurück und beschäftigte sich mit den Arbeiten Eugène Atgets, Walker Evans’ und August Sanders, deren Bildsprache den Betrachter eher hintergründig zur Essenz der Bilder führt. Besonders Sanders Fotoserie Menschen des 20. Jahrhunderts, die den modernen Stadtmenschen im Kontrast zum Dorfbewohner dokumentiert, scheint in Guidis wenigen stimmungsreichen Porträts nachzuklingen.Anders als die meisten seiner Kollegen trieb es Guidi während all der Jahre seines Schaffens nie in die Ferne. Ihn reizte das vermeintlich Vertraute, das Territorium, das mit seiner eigenen Biografie verbunden war. Seine fotografischen Expeditionen umzirkeln Cesena und treiben ihn in der Regel nicht weiter als bis nach Ravenna, Rimini, Marghera und Via Emilia. Dabei erinnert seine unsentimentale Verfahrensweise weniger an die eines Fotografen als vielmehr an die eines Topografen, der eine Gegend ganz unsentimental sieht, deren Daten aufnimmt, ohne mögliche ästhetische Merkmale zu berücksichtigen.Langsam entwickelte Guidi so eine ganz eigene Bildsprache, eine, die sich dem Wunsch, einen schönen oder bedeutenden Moment einzufangen, versagte. Als habe er sich Claude Lévi-Strauss zu Herzen genommen, der den interessantesten Aspekt eines Bildes im Moment des Übergangs von der Realität in die Repräsentation sah, verweigerte Guidi es konsequent, auf den entscheidenden Moment einer Aufnahme zu warten. Vielmehr blickte er beharrlich weg vom Glutkern eines Geschehens, in die vermeintlich falsche, uninteressante Richtung. Dorthin, wo die Welt noch nicht ausbuchstabiert ist, wo sie allenfalls im Begriff ist zu geschehen. Gefragt nach seiner Meinung zur Ästhetik und Moral des „Decisive Moment“, antwortet Guidi nicht ohne Humor: „Ich bin eher ein Anhänger der Idee des ‚gnommero‘, wie man im Römischen für Garnknäuel sagt und wie es am Anfang von Emilio Gaddas Roman Quer pasticciaccio brutto de via Merulana heißt.“Und doch fängt Guidi in seiner Verweigerungshaltung gegenüber ästhetischen Reizen eine Schönheit ein, die sich durch die Stimmung seiner Bilder definiert. Seine Fotografien gewinnen ihre Kraft in der spielerischen Suche nach Zeichen, die ohne symbolisch wirken zu wollen, es in gewisser Weise doch tun; eine Grasnarbe, die aus dem trockenen Boden wächst, Reste eines Plakats auf einer Fassade, überhaupt: Fassaden – Gemälden gleich, in sanfte Farben getaucht, die trotz einer gewissen Mattheit den Glanz der italienischen Sonne durchschimmern lassen. Und Menschen, die wirken, als wären sie versehentlich ins Blickfeld geraten, und wie gerade erwacht in die Kamera schauen.Akt der Demut, keine IronieGuidis Protagonisten der Konterlandschaften strahlen eine ähnliche Selbstvergessenheit aus wie wir sie von den oft von Laien dargestellten Charakteren der Filme Pier Paolo Pasolinis kennen. Guidi nähert sich diesen Menschen und ihrer Umgebung mit einem Ernst, der keine Ironie zulässt: „Fotografieren ist für mich ein Akt der Demut, ein Gebet. Und das Gebet verträgt sich nun einmal nur schwer mit der Ironie.“Es ist der Kontrast zwischen der totalen Unschuld und dem Streben nach Wahrheit, der das Werk Guido Guidis so interessant macht. Betrachtet man seine Bilder heute, stellt sich ein Gefühl der Melancholie ein. Man trauert um das verlorene oder zu achtlos zerstörte Bild des alten Europas. Doch wurde so auch Platz geschaffen für ein neues, offenes Kunstverständnis, in dem das Unperfekte und Unvollendete zu seinem Recht kommt.