Gerade zehn Jahre lag das Ende des Zweiten Weltkrieges zurück, als die westeuropäischen Fernsehstationen zum ersten Mal Schlagersänger und Chansoniers zum Eurovision Song Contest (ESC) schickten. Pop gab es damals praktisch noch nicht und auch der ESC hatte noch einen französischen Namen: Grand Prix Eurovision de la Chanson. Wie die Olympiade wurde das Ganze von der European Broadcasting Union (EBU) zwar als „unpolitisch“ deklariert, dennoch war es natürlich eine politische Idee gewesen. Denn mithilfe von Musik sollte der geschundene Nachkriegskontinent auch kulturell zusammenwachsen.
Es gibt ja wenige Sendungen in Europa, die so europäisch sind. Dazu gehören die Eurovisions-Hymne, die oft holprige mehrsprachige Moderation der Veranstaltung, di
altung, die Liveschaltungen zur Punktevergabe in die verschiedenen Länder, und schlieβlich die Tafel mit den Abstimmungsergebnissen. Und natürlich die Lieder und die Performance: Chanson, Balkanfolklore oder Skandinavien-Pop. Jedes Mal fragte man sich, welcher Hybrid aus nationalen Besonderheiten und internationalen Musikstandards es wohl dieses Mal zum Lied des Jahres schaffen würde?Beim ESC zeigte sich, wen Europa liebt und wen nicht. Dass das immer so gewesen ist, zeigt ein Blick auf die Historie des Musikwettbewerbs. Die Geschichte des Eurovision Song Contest ist, auf eine verschlungene und widersprüchliche Art natürlich, auch eine Geschichte Europas. Nach und nach wuchs hier die Familie zusammen: Am Anfang waren groβe west- und südeuropäische Länder wie Frankreich oder Italien und die Beneluxländer dabei – auch Westdeutschland. In den 1960ern und 1970ern kamen Spanien, Portugal und Griechenland hinzu. Damals noch Diktaturen verloren diese im Laufe der 1970er ihre Macht. Alle drei Länder wurden in den 1980ern schlieβlich Mitglieder der Europäischen Union (damals natürlich noch Europäische Gemeinschaft). Die Teilnahme am Eurovision Song Contest wurde so etwas wie ein Versprechen gesellschaftlicher Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesse. Die Vergrößerung des ESC bereitete auf diese Weise praktisch die der EU vor.Nach 1989 wurde der Wettbewerb zu einer Bühne, auf der die europäische Einigung zelebriert werden sollte. Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung gewann Toto Cutugno für Italien. Sein Siegertitel Insieme 1992 (Zusammen 1992) machte recht plump das Jahr zum Thema, in dem die Verträge von Maastricht in Kraft treten würden. Mit ihnen wurden die Auβen-, Sicherheits-, Justiz- und Innenpolitik neu koordiniert und die Grundlage der späteren Osterweiterung geschaffen. Die Pop-Hymne vollbrachte mithin das Kunststück, die reichlich abstrakte Europapolitik in ein dreiminütiges Melodrama zu verwandeln.In den 1990er Jahren stieg die politische Bedeutung des ESC sprunghaft an. Osteuropäische Länder wie Polen und die baltischen Staaten nahmen mit großer Begeisterung teil, während die Popularität des Events im Westen gleichzeitig immer mehr verblasste. Für diese neuen Teilnehmer waren die Hürden, hier aufzutreten, immerhin niedriger als bei der EU. Einmal im Jahr konnte man sich für ein paar Stunden als Teil eines vereinten Europas fühlen.Stichwort BalkanmafiaDer unbedingte Wille dazuzugehören, unterstützt von Nachbarschafts- und Diaspora-Abstimmungsverhalten, sorgten schließlich für eine überragende Erfolgsbilanz osteuropäischer Länder in den 2000ern. Noch vor der groβen EU-Osterweiterung 2004 waren Estland und Lettland bereits Sieger beim ESC. Der Trend hielt an: Im Jahr 2007 schaffte es kein einziges westeuropäisches Land mehr in die Top 10 des Finales.Unter dem Stichwort Balkanmafia brach nun eine Osteuropa-Paranoia aus. Mit der Verdoppelung der Teilnehmerzahl auf über 40, darunter sechs ehemalige jugoslawische Staaten und zehn ehemalige Sowjetrepubliken, konnten westeuropäische Teilnehmer kaum noch punkten. Osteuropa bat nicht mehr darum, mitmachen zu dürfen, sondern präsentierte sich jetzt selbstbewusst als das neue Europa.Die ESC-Erzählung vom demokratischen Fortschritt hatte Risse bekommen: In Belgrad, Moskau und Baku wurde am Rande des Wettbewerbs um Menschenrechte gekämpft. Als Anke Engelke 2012 die deutschen Punkte vor laufender Kamera verlas, ermahnte sie den Gastgeber Aserbaidschan: „Europe is watching you!“ Und ausgerechnet Schwule gerieten ins Visier. Unter ihnen gilt der ESC als Kult, viele reisen in der Woche vor dem Finale in den jeweiligen Austragungsort und verwandeln die Stadt in eine europäische Homometropole. 2009 wurde in Moskau dann eine Christopher-Street-Day-Parade von der russischen Polizei gewaltsam niedergeschlagen.Die Geschichte des Eurovision Song Contest als eine Art Parallelentwicklung zur EU war erschüttert. Jetzt ging es eher um die Frage, wo die Grenzen Europas wirklich verlaufen. Dieser Wechsel zeigte sich am deutlichsten am Beispiel Russlands, das 2008 den Wettbewerb gewann. Als Gastgeber im Jahr darauf wurde schnell klar, dass Russland die Veranstaltung weniger als ein europäisches Fest sieht, als sie vielmehr zur Selbstdarstellung nutzt. Während die kurzen Einspieler, die vor jedem Beitrag gezeigt werden, sonst dazu dienten, die anderen Länder vorzustellen, präsentierte sich Russland während der Show 20-mal selbst.Die EBU schritt nicht ein. Aber welche Rolle spielte die Musik denn hier? Denn natürlich fußte diese eigentlich komische Idee, Nationen durch Musik darzustellen, schon immer darauf, Pop auf eine dekorative Funktion zu beschränken. Im besten Falle aber konnte aus der recht willkürlichen Beziehung zwischen dem Willen zu nationaler Repräsentation und dem Stil des Popsongs auch ein charmantes Resultat entstehen. Schillernd und irrational. Genauso schillernd, wie der Wettbewerb war. Die uncoole Künstlichkeit und die massenhaften schwulen Fans auf der einen und die mediale Berichterstattung auf der anderen Seite, in die sich ja angesichts der vermeintlich hier versammelten Geschmacklosigkeiten oft ein Gefühl von Peinlichkeit mischt.Gleichzeitig ist die Beliebigkeit des ESC-Pops auch der Grund dafür, dass der Wettbewerb nationalpolitisch ausgenutzt werden konnte. 2003 versuchte Russland, das europäische Publikum mit dem pseudolesbischen Mädchen-Duo Tatu rumzukriegen – bei gleichzeitiger Diskriminierung sexueller Minderheiten im eigenen Land. Pop ist keine Garantie für Demokratie. Doch nun in diesem Jahr wird der Eurovision Song Contest zeigen, dass es anscheinend doch eine Grenze gibt, was die Popästhetik zulassen kann und was nicht. Selbst wenn Pop erst einmal keine Verpflichtung auf Werte mit sich bringt, sondern häufig gerade über seine Inhaltsleere erfolgreich ist, muss er doch immer daran festhalten, eine gewisse Unschuld zu behaupten. Pop kann ohne Probleme belanglos, aber nicht zynisch werden.Eine grausame FarceWenn der Referenzrahmen nationaler Repräsentation von gewaltsamen Gebietsansprüchen und militärischen Konflikten bestimmt ist, wie jetzt zwischen Russland und der Ukraine, funktioniert das Prinzip Pop nicht mehr. Shine von den russischen Tolmachevy Sisters hätte in einem anderen Jahr Chancen auf den Sieg gehabt. Wenn die ehemaligen Kinderstars jetzt ihren harmlosen Mainstream-Pop präsentieren, schaudert es einen. Angesichts der Angespanntheit der aktuellen politischen Lage wird die Nummer der russischen Zwillinge zur grausamen Farce.Für die Zuschauer ist das unübersehbar. Auf den Fanseiten und in den Online-Blogs zum ESC herrscht im Moment Ratlosigkeit darüber, was man mit dem diesjährigen russischen Beitrag anfangen soll. Wirtschaftssanktionen gibt es beim ESC nicht. Aber man darf ja abstimmen. Dass ein europäisches Publikum am Abend des Finales bereit ist, hier eine klare Linie zwischen Pop und Politik zu ziehen, wie es die European Broadcasting Union gern hätte, ist kaum vorstellbar. Eher werden die Zuschauer die Gelegenheit nutzen, zu zeigen, wo für sie momentan die Grenzen Europas verlaufen. Russland zählt dieses Mal, anders als sonst, nicht zu den Favoriten. Umgekehrt wäre es keine groβe Überraschung, wenn europaweite Sympathiebekundungen dem ukrainischen Beitrag Tick-Tock von Maria Yaremchuk zum Sieg verhelfen. Der Song als Symbol dafür, dass die Ukraine doch zu Europa gehört.