Er war groß und smart, kannte sich mit Computern aus und mit Massage. Ich schwärmte ein bisschen für ihn. Am Abend vor dem 1. Mai rief er an. „Wollen wir morgen ins Café, schön frühstücken?“ Frühstücken? Ein schlechter Scherz, dachte ich. Mir fiel der Taxifahrer aus dem Film Solo Sunny ein, der zwar das Hemd offen trägt, aber die wilde junge Sängerin ins exquisite Hotel Berolina ausführen möchte. Sie lächelt nur gequält. „Du kannst am 1. Mai seelenruhig in einem Café herumsitzen?“, sagte ich. „Was machst Du denn? Steine werfen?“ Es sollte ironisch klingen. Was sollte ich antworten? Ja?
Er würde mich nicht verstehen. Ich spürte, uns trennten Welten.
Es waren die Ne
en. Es waren die Neunziger, ich war damals Mitte 20 und wohnte im Prenzlauer Berg. Es gab das Café Westphal, mit schummrigem Licht und bordeauxroten abgewetzten Sofas. Am Abend vor dem 1. Mai ging ich mit der Gitarre hin. Bob Dylan. Joan Baez. „Mach ma‘ noch wat von den Stones“, riefen ein paar Arbeiter. Ich sang lieber Rio Reiser. Der Traum ist aus. „Ich hab geträumt, der Winter wär’ vorbei. Du warst hier, und wir war’n frei, und die Morgensonne schien ...“ Das Lied hatte Kraft, und diese Melancholie. Rios Traum war so diffus wie unserer in dieser Zeit. Von meinen 25 Mark Gage, die ein Freund mit dem Hut eingesammelt hatte, gingen wir in die Spätkäufe, die gerade erst aufgemacht hatten, Bier und Wein kaufen. Wir saßen dann in Kapuzenpullis auf einer großen Wolldecke auf dem Kollwitzplatz. Ein Typ kam vorbei, den alle Tarzan nannten. Er hinkte, zahnlos, Ex-DDR-Soldat. Er bläute uns stundenlang ein, was ihm sein Protest gebracht hatte und pochte auf sein Holzbein. Er war nicht nur physisch kaputt.Statt auf die Love-Parade Wir hörten ihm zu, während wir warteten, dass es dunkel wurde. Als die ersten Walpurgisfeuer flackerten, zeigte uns ein Freund, in welchem Hof er Steine versteckt hatte, für die Demo am nächsten Tag. Die Steine passten in unsere Jackentaschen. Ich hatte die Räumung der Mainzer Straße 1990 miterlebt. Ich wollte gewappnet sein. Womöglich wollte ich auch Eva beeindrucken, mit der ich damals in einer WG wohnte. Sie kam aus Schweden, studierte Biologie und las Charles Dickens. Sie fand diese Stimmung im Ostberlin nach der Wende seltsam aufgeladenen. „Alle sind hier so verrückt“, sagte sie. „Und wogegen willst du manifestierön?“ Ich überlegte. Erzählte ihr was von den „Bullen“, von gewaltsamen Übergriffen (die kannte ich ja aus dem Fernsehen, von Krawallen in Kreuzberg). Anstatt auf die dekadente Love-Parade gehe ich eben lieber für was Sinnvolles auf die Straße, sagte ich. Eva nickte stumm.Mein Kumpel, der die Steine gesammelt hatte, dozierte über die Lage in Palästina. Seine Freundin sagte, sie wolle sich nicht „diesem neuen System“ anpassen. Für Eva klang das kämpferisch. Nach Abenteuer. Sie wollte am 1. Mai dabei sein.Morgens beim Frühstück saßen wir auf ungeschliffenen Dielen, und bauten uns einen Schlachtplan. Nicht im Block mitlaufen, sondern am Rand halten, zwecks Flucht. Den Stein in der Tasche, die Reißverschlüsse zu. Sobald wir Tränengas abkriegen, sofort werfen.Eva und ich gehörten zusammen, aber wir wollten nirgends dazugehören. Keine organisierte Gruppe bilden, so wie die alten Kämpfer in Westberlin. Wir sahen uns als Individualisten, fern politischer Programme, wir fühlten nur eine innere Abwehr. Das Land veränderte sich so schnell, es wechselte seine Richtung. Nur wir fanden unsere nicht. Oder wollten sie nicht finden.Türkische Solidarität Der Strom der Demonstranten setzte sich am frühen Nachmittag langsam in Bewegung. Nach ein paar Minuten tränten meine Augen, Tränengas. Ich schaute Eva an. Auch sie flennte. Meine Hand fasste den Stein in der Jacke, es flogen bereits welche durch die Luft. Als mir plötzlich ein Strahl Wasser ins Gesicht schoss, geschah etwas. Plötzlich war ich nicht mehr nur hier, weil ich einen Kick suchte, ‚gegen etwas‘ sein wollte. Ich fühlte mich angegriffen. Vom Staat.Ich zog meinen Stein und zielte. Er traf das Schutzschild eines Polizisten, der mich hasserfüllt ansah. Er rannte auf mich zu. Ich bog in eine Seitenstraße. „Kommst du hier, mach’ isch Tür zu“, rief ein türkischer Späti-Verkäufer. Eva folgte mir, der Verkäufer verriegelte den Eingang. Während die Polizisten dagegen hämmerten, kochte er uns schwarzen süßen Tee.Nach etwa 15 Minuten verließen wir den Imbiss durch die Hintertür. Die Polizisten sahen es, rannten uns nach. „Sie werden mich ausweisen, ich bin Schwedin, ich hab Angst!“, rief Eva panisch. Wir rannten in den Hinterhof eines Bekannten. Dritte Etage, ich klingelte Sturm. Er öffnete nach ein paar Minuten, im Pyjama. „Die Bullen sind hinter uns her, lass uns rein“, rief ich. Er sah mich irritiert an. „Sorry, ich hab mir gerade einen Espresso gemacht, und bin nicht allein...!“ Ich sprach von drohendem Gefängnis und Festnahmen. Er blieb hart. ‚‚Ihr könnt euch in dem Mini-Klo auf dem Gang verstecken“, schlug er vor. Dieser Verräter. Wir quetschten uns in das Klo, die Polizei stand noch immer im Hof und schaute nach oben. Wir fühlten uns wie Banditen. Eva zitterte. Irgendwann marschierten sie ab, aber Eva wäre gern noch über Nacht auf dem Klo geblieben. Ich beruhigte sie. Ohne Stein könnten sie uns nichts nachweisen.Auf einmal ein PlanDas ist mehr als zehn Jahre her. Eva und ich wohnen längst nicht mehr zusammen, aber sie schwärmt manchmal noch von dieser „Anarkie“ im wilden Osten. Sie fehlt mir auch. Aber irgendwann schienen mir die Möglichkeiten der neuen Welt größer als der Verlust der alten. Ich träumte vom Studium in Paris, von Praktika bei guten Zeitungen. Auf einmal gab es einen Plan. Ich wollte ankommen, meinen Platz in der Gesellschaft finden, nicht draußen sein. Also fing ich an, mich anzupassen.Vor ein paar Tagen rief mich ein Typ an. Ob wir nicht am 1. Mai rausfahren könnten. Aufs Land. Und später gemütlich irgendwo Kaffee trinken gehen. Ich zögerte. Schöne Idee, sagte ich dann.