In Eugen Ruges Roman In den Zeiten des abnehmenden Lichts gibt es viele Verbindungen zur Realität, aber auch Differenzen. In Wirklichkeit überlebten beide Brüder, Wolfgang und Walter, das sowjetische Zwangsarbeitslager – im Buch kehrt nur Wolfgang, der dort Kurt heißt, zurück. Der andere stirbt in Workuta. Diese Entscheidung wird der historischen Wahrscheinlichkeit gerechter als das tatsächliche Geschehen. In einer Schlüsselszene – sie spielt am 1. Oktober 1989 – beschließt Kurt, keine Beiträge mehr für Tagungsbände zu verfassen und endlich seine Erinnerungen niederzuschreiben, beginnend mit seiner Flucht aus Hitler-Deutschland in Stalins Reich.
Nun gibt der Sohn, Eugen, die Memoiren des Vaters heraus. Im Jahr 1933 (im
s. Im Jahr 1933 (im Roman 1936) emigrierte der spätere Historiker Wolfgang Ruge (1917-2006), 16-jährig, zusammen mit seinem älteren Bruder Walter über Skandinavien nach Leningrad. Mit dem „erhebenden Gedanken im Kopf, dass ich jetzt auf derselben Route wie Lenin im Revolutionsjahr nach Russland einreiste“, näherte er sich seinem Ziel. Als er die Grenzstation passiert, berührt es ihn so stark, „wie es ein religiöser Mensch beim Anblick der Jungfrau Maria empfinden mag“.Am Anfang dieses Glaubens an den Kommunismus standen die Fronterlebnisse des Vaters, der sich vom national Gesinnten über den Pazifisten bis zum Kommunisten wandelte. Die Ruge-Söhne wuchsen in einem Klima der Bewunderung für die Sowjetunion auf, Berichte über Hungersnöte taten sie als feindliche Hetze ab.Hunger und HolzfällenDamit ist die Fallhöhe angezeigt, der Sturz wird folgen. Wie im Thriller gibt es anfangs verstörende Zwischenfälle und Beobachtungen. Ein zerlumpter Invalide rollt auf einem Holzbrett mit Rädern vorbei, und Wolfgang Ruge erinnert sich, dass in Deutschland solche Versehrte einen Rollstuhl benutzten. Oder er bemerkt, dass „Opposition“ das gefährlichste aller Worte ist. Die Vorboten des großen Terrors lassen die Zweifel so stark wachsen, dass er das gelobte Land lieber wieder verlassen will. Aber es ist zu spät. Freilich erst als Deutschland in breiter Front die Sowjetunion überfällt, wird er nach Kasachstan verbannt und gerät schließlich in ein Zwangsarbeitslager im Ural. Dabei weitet sich der Band zur anthropologischen Studie.„Denn nur im Lager, wo sich die Menschen völlig entblößen, offenbart sich ihr Charakter“, lässt Ruge einen Mitgefangenen sprechen. „Draußen verstellen sie sich, geben vor, etwas zu sein, was sie nicht sind, hier aber werden sie von den Umständen gezwungen, ohne Maske aufzutreten. Das gilt sowohl für den obersten Chef als auch für den letzten Kriminellen, der vor seinem Verbrecherkönig zittert, Ich brauche mir nicht den Kopf über die Motive der Kremlbosse zerbrechen – ich habe sie tagtäglich en miniature vor mir.“Hunger und Holzfällen lassen Wolfgang Ruge zum Skelett abmagern, stören seine Denkprozesse, fragmentieren seine Erinnerungen, entmenschlichen ihn im wahrsten Sinne. Vergleichbar mit Emile Zola, der in Germinal das Elend und die Ausbeutung im Bergwerk im epischen Bericht über den Tod eines Grubenpferdes zeigt, veranschaulicht es Wolfgang Ruge an den ausgehungerten und geprügelte Lagerpferden, in deren Augen „man nicht blicken“ darf.Der ständige Überlebenskampf hält einen Großteil der politischen Häftlinge von der grundsätzlichen Infragestellung eines Regimes ab, in dem ein Menschenleben nichts zählt, der Zufall Schicksal spielt. Manche sterben, Wolfgang Ruge überlebt.Aufschlussreich, dass es in der schlimmsten Phase des Lagerregimes, wie heute in vielen Slums, nur wenige Selbstmorde gibt. Erst nach 1945, als die Hoffnung stirbt, dass das Kriegsende die Gefangenen in ihr altes Leben zurückbringt, häufen sie sich.Kürzer und härterFür Wolfgang Ruge beginnt eine langsame Heimkehr mit vielen Rückschlägen. So muss er seine große Liebe Veronika in der kasachischen Verbannung zurücklassen. Beim letzten Treffen meint sie: „Liebe ist für mich ein Land, in das es keine Rückkehr gibt.“ Ihr Wille ist gebrochen, nicht der von Wolfgang Ruge. Als ewig Verbannter, als der er nun offiziell gilt, liest er im Ural die Klassiker von Aristoteles bis Cervantes, von Horaz bis Marx. 1950 werden die Marx-Engels-Bände, da sie angeblich niemand lesen kann und man nicht wisse, was darin stehe, verbrannt. Mit großer Willenskraft schafft es Wolfgang Ruge, unter den harten Bedingungen der Verbannung ein Hochschulstudium zu beenden. Im Ural lernt er seine spätere Frau Taja kennen; und als ein Kinder von Geächteten wird ihr Sohn Shenja (Eugen), griechisch: der Hochwohlgeborene, ein Jahr nach Stalins Tod 1954 geboren.In doppelter Hinsicht ist Gelobtes Land Wolfgang Ruges Lebensbuch: Er erzählt vom Trauma der ersten Hälfte seines Lebens, das er in der zweiten zu verarbeiten versuchte. Schon früh notierte er auf Karteikarten Lebensläufe von Mitgefangenen, und während längerer Schreibphasen 1984-1986 und 1998-99 rang er um seinen Standpunkt zum Erlebten. „Wenngleich für ihn feststeht, dass der Stalinismus ein verbrecherisches System war, hat er den Glauben bewahrt an eine Gesellschaft ohne Konkurrenz, ohne erniedrigende Ungleichheit, ohne die Herrschaft des Geldes“, schreibt Eugen Ruge im Nachwort.Beendet hat der Vater, der in seinen letzten Lebensjahren an Demenz erkrankt war, seine Arbeit nicht mehr. Allerdings erschien eine andere Fassung bereits 2003 in Buchform. Die Bearbeitung von Eugen Ruge ist kürzer und härter. Wo die erste Fassung mit einem „Ich freue mich auf Begegnungen, aufs Lernen“ endet, heißt es nun zur Rückkehr nach Berlin: „Ich sehe angespannt aus dem Fenster, versuche, Anzeichen eines sozialistischen Wandels zu entdecken. Aber sosehr ich mich bemühe: Die Häuser, die heruntergekommenden Fassaden, das Pflaster, die Straßenbahnen, die Menschen – sie weisen solche Anzeichen nicht auf.“ Diese Fassung entstand aus aus dem Geist der Erzählung, der weniger erklärend-reflektierend wirkt als szenisch. Wer also den Roman des Sohns aus historischem Interesse gelesen hat, dem sei die Autobiografie des Vaters als Vorgeschichte empfohlen.